Homepage » News & Presse » Interview zur Umsetzung der IATF 16949:2016 mit Wolfgang Rhein
Bei der Umsetzung der IATF 16949:2016 in der Praxis fällt dem Automotive-Experten Wolfgang Rhein auf
„Immer wieder die gleichen Hauptabweichungen…“
Seit 2016 ist die neue vollständig überarbeitete Norm nun am Markt. Ziel war es, die Produktqualität für Automobilkunden weltweit zu verbessern und einen einheitlichen Standard zu bilden. Die IATF 16949:2016 ist ausnahmslos auf Qualität ausgerichtet und soll sicherstellen, dass in der Lieferkette alle die gleiche Sprache sprechen und Produktsicherheit sowie -qualität gewährleisten. Das hatte zur Folge, dass sich nicht mehr nur Tier-1- und Tier-2-Lieferanten nach den IATF-Standards zertifizieren lassen mussten, sondern alle Automotive-Zulieferer bis hin zu den Rohmaterial-Lieferanten. Die damals sehr kurz angesetzte Übergangszeit und die hohen Anforderungen der Norm machten den Unternehmen zu schaffen. In den letzten 8 Jahren begleitete der Automotive-Spezialist Wolfgang Rhein viele Unternehmen bei der Umsetzung der Anforderungen der IATF 16949:2016.
Die offiziellen Statistiken der IATF über die häufigsten Haupt- und Nebenabweichungen kann Rhein nur bestätigen. Im folgenden Interview zeigt er die häufigsten Abweichungspotenziale auf, damit sich Unternehmen noch gezielter auf das Audit vorbereiten können.
Redaktion:
Herr Rhein, zunächst einmal: Welche Abweichung sehen Sie in der Praxis bei Organisationen am häufigsten? Welche Fehler werden gemacht?
Wolfgang Rhein:
Ein besonderes Augenmerk sollten die Automobilzulieferer natürlich auf die häufigsten Hauptabweichungen legen, führt doch jede festgestellte Hauptabweichung direkt zum Nachaudit und somit vorläufigen Nichtbestehen. Folgende Hauptabweichungen kennen die Automotive-Spezialisten der Rhein S.Q.M. GmbH aus nahezu jeder IATF-16949-Beratung und Zertifizierungsvorbereitung: Top 1 und 2 der häufigsten Hauptabweichungen belegen der „Problemlösungsprozess“ sowie „Nichtkonformitäten und Korrekturmaßnahmen“. Das liegt daran, dass diese Prozesse eine sehr komplexe Angelegenheit darstellen – es handelt sich hierbei entgegen der landläufigen Meinung nicht um eine Korrektur von Fehlern, sondern um echte Problemlösungen! In der Praxis schicken Organisationen mit diesen Hauptabweichungen als Maßnahme ihre Mitarbeiter häufig in Nachschulungen für den 8D-Prozess. Allerdings stellt dies keine prozessverbesserte Maßnahme dar und die Wirksamkeit ist auch nicht nachweisbar. Ich sehe, dass die Ursachenforschung in Organisationen oft nur oberflächlich stattfindet. Echte Ursachenforschung bildet D4 im 8D-Report ab. Dort wird die Fehlerursache erarbeitet und bewiesen. Nach der „Root-Cause-Analyse“ wird erarbeitet, wie ausgeschlossen werden kann, dass ähnlich gelagerte Fehler wieder auftreten. In der Praxis weist nur eine Minderheit der Organisationen nach, dass sie die technischen Grundursache eines Fehlers verstanden haben. Fast niemand versteht es zudem, organisatorische Grundursachen zu ermitteln und daraus eine nachhaltige Verbesserung des Managementsystems abzuleiten. Bei der Mehrheit der Organisationen wird so aus Fehlern nicht gelernt und diese tauchen dann unvermeidlich als Wiederholungsfehler auf technischer sowie auf organisatorischer Ebene wieder auf. Außerdem werden viele Fehler auf der D2- und D3-Ebene des 8D-Reports gemacht.
Redaktion:
Welche Fehler sind das?
Wolfgang Rhein:
In D2 ist meist schon die Problembeschreibung falsch. Das Symptom selber wird häufig zum Problem hochgeadelt. Hinzu kommt noch eine unvollständige Grundursachenanalyse, der fehlende Nachweis von Ursache(n) und Wirkung(en), häufig basierend auf reiner Spekulation. Oft wird eine schnelle, oberflächliche Maßnahme wie beispielweise die Durchführung von Nachschulungen als Problemlösung präsentiert, damit zumindest mal „der Kunde Ruhe gibt“. Allerdings wird das Vertrauen des Kunden in die Problemlösungskompetenzen spätestens beim Wiederholfehler schnell schwinden. In D3 werden die Sofortmaßnahmen zur Schadensbegrenzung festgelegt, allerdings wird die Wirksamkeit solcher Sofortmaßnahmen häufig nicht evaluiert. Auch D7 birgt Fehlerpotenziale. Durch geeignete Vorbeugemaßnahmen sollen hierbei ähnliche Fehler verhindert oder ihre Auftrittswahrscheinlichkeit verringert werden. Die neu erkannten oder in der Vergangenheit falsch eingeschätzten Fehler müssen auch in Risikoanalysen (wie FMEA) reflektiert werden. Das heißt, bestehende FMEAs müssen zwingend untersucht und ggf. einem Update unterzogen werden.
Die gründliche Überprüfung von 8D-Reports ist in Audits unumgänglich, Wiederholungsfehler sind grundsätzlich als potenzielle Hauptabweichung zu werten und was das bedeutet, habe ich oben bereits erläutert.
Redaktion:
Was ist Ihres Erachtens die Hauptursache der immer gleich auftretenden Hauptabweichungen?
Wolfgang Rhein:
Das liegt meines Erachtens zumindest häufig am fehlenden Managementverständnis für nachhaltige Problemlösungen. Ein Problemlösungsprozess soll dafür sorgen, dass das betreffende Problem nie wieder auftritt, auch nicht an einem anderen Standort, nicht in einem anderen Prozess und auch nicht bei anderen Produkten der Organisation. Der wahrhaftige Problemlösungsprozess wird zumeist zu einem „8D-Report“ degradiert. Somit wird aus einem Projekt ein Dokument. „Echte“ 8D-Kultur ist in der Praxis sehr selten, am häufigsten noch in Asien (Japan), anzutreffen.
Redaktion:
Welche weiteren häufigen Hauptabweichungen sehen Sie und Ihre Experten in der Praxis?
Wolfgang Rhein:
Das Kapitel 8.3.5.2 „Produktionsentwicklungsprozess“ bereitet den Organisationen oft Hauptabweichungen. Die hier explizit geforderte Prozess-FMEA wird häufig nicht sachgemäß, auch nicht am Stand der Technik orientiert, ausgeführt. Die besonderen Produkt- und Prozessmerkmale werden nicht definiert, auch der Produktionslenkungsplan sowie geeignete Prozessfähigkeitsstudien fehlen in der Praxis häufig. Die fehlende Verifizierung von Fehlervermeidungsmaßnahmen führt auch zu so mancher Hauptabweichung.
Redaktion:
Herr Rhein, wieviel Zeit haben Organisationen zur Behebung der Abweichungen?
Wolfgang Rhein:
Es gibt die sogenannte „60-Tage-Regel“, bei der nach Feststellung einer Hauptabweichung innerhalb von 60 Tagen die effektive Implementierung der Korrekturmaßnahmen nachgewiesen werden muss. Meines Erachtens ist diese Regel kontraproduktiv, da sie die schnelle, aber zumeist nicht nachhaltige Problemlösung, um die Zertifizierung aufrecht zu erhalten, vorantreibt. Dieser kurze Zeitraum ist angesichts des 8D-Gedankens, der eine Langzeitwirksamkeitsprüfung inkludiert, regelrecht absurd. Auf das vorhandene Problem wird im übertragenen Sinn ein Pflaster geklebt, das Problem wird zu einer nicht verheilten Narbe.
Richtig wäre hier, einen angemessenen Zeitraum – freilich ohne aus Qualitätsgründen ungerechtfertigte Verzögerungen – festzulegen, in dem die Organisation realistisch ihre Probleme mit nachhaltigen Lösungen angehen kann.
Redaktion:
Welche weiteren häufigen Abweichungen gibt es des Weiteren?
Wolfgang Rhein:
Der „Notfallplan“ aus Kapitel 6.1.2.3 führt in der Statistik der häufigsten Nebenabweichungen diese an. Oft liegt eine erstaunliche Unkenntnis in den Organisationen vor. Dabei ist diese Abweichung relativ einfach vermeidbar: Die Verantwortlichen müssten im Prinzip in regelmäßigen Abständen die Website der IATF Global konsultieren und den Bereich der „Sanctioned Interpretations“ lesen. Dort findet man, welche Forderungen in Prozesse übersetzt werden müssen. Besonders im Bereich der IT-Security besteht in der Praxis häufig ein großer Nachholbedarf, welcher mit Normen wie TISAX oder ISO 27001 (zumindest partiell) abgedeckt werden könnte.
Haupt- und Nebenabweichungspotenzial liegt auch in den „Kundenspezifischen Anforderungen“, zu finden in Kapitel 4.3.2. Meist sind kundenspezifische Anforderungen, z.B. in Lieferantenhandbüchern o.ä. spezifiziert, sehr umfangreich und in der Praxis deutlich schneller akzeptiert als gelesen.
Redaktion:
In welcher Abweichung liegt ihrer Meinung das größte Potenzial für eine Organisation?
Wolfgang Rhein:
Das ist für mich persönlich ganz klar Kapitel 8.5.1.5 „Total Productive Maintenance“, als TPM abgekürzt. Der Nutzen von TPM ist der Mehrheit der Organisationen nicht klar, er wird deshalb total unterschätzt. Infolgedessen fehlt der Management-Support. Der Nutzen liegt ausschließlich daran, Geld zu verdienen und die Liefertreue aufrechtzuerhalten, was letztendlich irgendwie dasselbe ist. Die Idee von TPM ist die maximale Verhinderung von ungeplanten Produktionsstillständen mittels vorausschauender Wartung sowie Instandhaltung. Leider fehlt den Organisationen häufig die Fantasie in der Umsetzung, sie ruhen sich oft auf den klassischen Methoden der Wartung und Instandhaltung aus. Anstatt die zahlreich anfallenden Daten wie beispielsweise Produkteigenschaften, Produktionsprozesseigenschaften etc. auf mögliche Zusammenhänge mittels Data Mining zu überprüfen, scheint den Führungskräften das Thema TPM eher lästig zu sein. Es fehlt die Bereitschaft, die zahlreichen anfallenden Daten auszuwerten und darauf basierend Projekte anzustoßen. Unternehmen, die umdenken und TPM als „Data-driven enabler“ sehen, werden meines Erachtens künftig eine bessere Stellung am Markt haben. Stattdessen fährt man aber zumeist immer noch auf Verschleiß, was – und das ist eigentlich bekannt – immer schon viel teurer war, als vorausschauende Maintenance.
Redaktion:
Ihr Fazit zur IATF 16949:2016?
Wolfgang Rhein:
Vorab: Diese Norm ist eine exzellente Norm, sie ist total auf Qualität ausgerichtet, was wirklich ausgezeichnet ist. Nach 8 Jahren sehe ich Fortschritte bei den zertifizierten Unternehmen, da sie zunehmend den Sinn der logischen Anforderungen der IATF 16949:2016 sowie ihrer verbindlich zu ergänzenden „Sanctioned Interpretations“ und „FAQs“ erkennen und auch umsetzen. Rückschritte sehe ich zunehmend in der Praxisorientierung und somit in der Interpretationsfähigkeit der 3rd-Party Auditoren. Das bedeutet: Ich sehe leider eine zunehmende Entfremdung von der Praxis.
Selbstverständlich unterstützen wir auch Ihre Organisation in allen Belangen zur IATF 16949:2016 – mit individueller inhouse-Beratung.
Unsere Automotive-Spezialisten sind aufgrund fundierter Erfahrungen sowohl auf Unternehmensseite als auch als Third-Party-Zertifizierungsauditoren zu allen Fragestellungen betreffend der IATF 16949:2016 ansprechbar und wissen, wie die Forderungen in Ihre firmeninterne Sprache zu übersetzen sind.
Unser Interview-Partner
Wolfgang Rhein, Gründer und Geschäftsführer der Rhein S.Q.M. GmbH, kennt die Haupt- und Nebenabweichungen, die die IATF 16949:2016 für Unternehmen bereit hält.
Aktuelles
- Interview zur Umsetzung der IATF 16949:2016 mit Wolfgang Rhein16.04.2024 - 07:43
- Kundenzufriedenheit 202326.01.2024 - 15:58
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- Pressemitteilung zur CQI-12 Version 3, der spezifischen Norm der Automobilindustrie für Beschichtungs-Prozessmanagement15.02.2022 - 07:50
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