Damit die ISO 9001:2015 im Führungsalltag statt in der Schublade landet:
Die Herausforderung liegt im Umdenken
Die Betrachtung aller relevanten Stakeholder ist eine wesentliche Errungenschaft der neuen Norm, ist diese 360°-Sicht doch wesentlich realitätsnäher und nachhaltiger als die ausschließliche Fokussierung des QM-Systems auf den Kunden. Ohne intrinsische Motivation, das risiko- und chancenbasierte Denken tatsächlich im Alltag nach der Zertifizierung zu leben, verpuffen die positiven Ziele des Normgebers allerdings recht schnell.
Im Spannungsfeld der interessierten Parteien bewegte sich die ad laborem gGmbH, deren Wurzeln bis 1990 zurückreichen, schon von Beginn an. Die 100%ige Tochter des Caritasverband Mannheim e.V., ein Verpackungs- und Logistikdienstleister mit rund 90 Mitarbeitern, bedient mit einem globalen Konzern im Automobilbereich und einem Mittelständler aus dem Bereich der Befestigungstechnik zwei große Industriekunden. Forderungen wie eine Null-Fehler-Produktion oder Just-in-Time-Lieferungen sind selbstverständlich Bestandteil der Verträge und Liefervereinbarungen.
Auf der anderen Seite stehen öffentliche Zuschussgeber, die hohe Anforderungen an einen verantwortungsvollen Umgang mit den Mitarbeitern und eine lückenlose Dokumentation der ordnungsgemäßen Verwendung von gewährten Zuschüssen stellen. Denn etwa 50 Prozent der ad-laborem-Mitarbeiter haben eine Behinderung, ein weiterer Teil der Arbeitsplätze steht Langzeitarbeitslosen sowie Jugendlichen zur Verfügung, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als schwer vermittelbar gelten.
Mit einem komplexen Kontext und unterschiedlichen Ansprüchen an die Organisation, die nicht selten sogar in einem Konflikt zueinander stehen können, hat der anerkannte Integrationsbetrieb also Erfahrung.
Eindenken und Umdenken – und das neben dem Alltagsgeschäft
Von Vorteil war im Fall ad laborem, dass sich die Leitung der Organisation schon vorher federführend mit ihrem Managementsystem beschäftigt hat und auch bisher schon die unterschiedlichsten Anspruchsgruppen im Fokus hatte – nur eben nicht als Teil des QM-Systems. “Dennoch war es nicht einfach, sich in die geforderte Systematik einzudenken.”, so Betriebsleiter Klaus Litwinschuh. “Schließlich sind wir mit Schwerpunkt im Alltagsgeschäft und nicht im Qualitätsmanagement unterwegs. Wir haben daher im Vorfeld auch mehrere Anläufe des Verstehens, Begreifens und Umsetzens gebraucht.”
Geholfen hat eine strukturierte Herangehensweise, mit der zunächst einmal die Anforderungen und Erwartungen der jeweiligen Parteien aufgenommen wurden, dies teilweise auch im Interview-Stil. Auf dieser Basis wurden die Risiken einer Nichterfüllung dieser Anforderungen und Erwartungen und die heutige Berücksichtigung im Managementsystem erörtert. Dies führte auch zu Veränderungen und wichtigen Ergänzungen im System. Damit war es aber noch lange nicht getan: Die ISO 9001:2015 fordert, Prozesse mit Leistungsindikatoren zu überwachen, also eine Messbarkeit zu gewährleisten, die den aktuellen Zielerreichungsgrad widerspiegelt.
Volker Hemmerich, einer der beiden ehrenamtlichen Geschäftsführer der ad laborem gGmbH, drängte dabei von Anfang an darauf, ein System zu entwickeln, das im Führungsalltag gelebt werden kann: “Für uns war bei der Entwicklung der Prozesskennzahlen wichtig, dass sie auf der einen Seite natürlich ausreichend aussagekräftig sind, aber auf der anderen Seite für uns auch handelbar sein müssen.”
“Blut, Tränen und Schweiß”
Über ein knappes halbes Jahr verteilt arbeitete die ad laborem gGmbH daran, den Ansatz des risikobasierten Denkens für den individuellen Kontext zu erarbeiten, geeignete und für das Unternehmen nutzenbringende Prozesskennzahlen zu entwickeln, dem erweiterten Begriff der “dokumentierten Informationen” Rechnung zu tragen und die Regelungen so zu ergänzen, dass nach und nach die gesamte Organisation am Managementsystem beteiligt wurde. Litwinschuh betont hierzu: “Unser Alltagsgeschäft ist nicht das Qualitätsmanagement, sondern der Verpackungs- und Logistikservice. Wir haben weder die Fachlichkeit, noch die Zeit und haben daher für die Zertifizierungsvorbereitung auf externe Unterstützung zurückgegriffen.”
Er schließt aber nicht aus, dass Unternehmen sich auch eigenständig auf die veränderte Norm vorbereiten können, empfiehlt aber, das Ganze zeitlich zu entzerren. “Wir hatten extrem viele Termine in kurzer Abfolge und mussten die Rezertifizierung vor anderen Dingen priorisieren.”, erinnert sich auch Hemmerich. Empfehlenswert sei es daher, für die Vorbereitung der Rezertifizierung bis zu einem Jahr Zeit einzuplanen. Denn die knappe Zeitspanne, die bei ad laborem zur Verfügung stand, lasse sich, so Hemmerich, wohl am besten mit “Blut, Tränen und Schweiß” überschreiben.
Zu den 2015er-Audits muss man mehr Zeit mitbringen
Die Norm ist noch relativ neu und auch die Auditoren haben noch nicht so viel Erfahrung damit. Rein praktisch gesehen, war die erste Hürde daher, Auditoren zu finden, die im März 2016 schon nach der neuen Norm zertifizieren. Dieses Thema hat sich jetzt, Ende 2016, zumindest in Bezug auf diese Norm erledigt.
Inhaltlich gesehen kommt auch in den Audits zum Tragen, dass die ISO 9001 in der 2015er-Revision mit den “interessierten Parteien” und der 360°-Betrachtung deutlich erweiterte Denkstrukturen verlangt, auf die man sich erstmal einstellen muss. Ganz konkret zeigte sich im Audit von ad laborem, dass man über die eine oder andere Situation mehr Worte verlieren musste und mehr Erklärungen nötig waren. Das dauert dann natürlich auch mal länger. “2008 war ohne große Spielräume klar: Für X braucht man A, für Y braucht man B. Wenn man A und B hatte, konnte man einen Haken dranmachen.”, so Litwinschuh. “2015 fing die Diskussion viel weiter vorne an: Ist die gewählte Kennzahl tatsächlich geeignet, eine Aussage zur Erfüllung der Anforderung zu liefern?” So gab es im Audit trotz intensiver und detaillierter Vorbereitung schon zu dem einen oder andern Punkt noch Diskussion und Nachfragen – aber letztlich wurde es ohne Abweichungen absolviert. “Die Bilder zu den Anforderungen aus der Norm müssen in verschiedenen Köpfen nicht unbedingt deckungsgleich sein!”, hat Hemmerich im Audit gelernt.
Die Führung in der Pflicht
Und wie geht es nach dem Audit bei ad laborem weiter? “Wir haben sehr viel aus dem Anforderungskatalog die ganze Zeit schon gelebt, ohne es zu wissen. Es wurde im Prinzip nur noch verschriftlicht.”, ist Litwinschuh froh. Trotzdem wurde deutlich, dass von der Geschäftsführung, der Betriebsleitung und der Verwaltung Veränderungen erwartet werden. Die Prozesseigner müssen definierte Kennzahlen konsequent und zuverlässig erfassen, dokumentieren und überwachen. Das erfordert in erster Linie große Selbstdisziplin, die von der Führungsebene vorgelebt werden muss. Denn nur dann kann man sie von den anderen Beteiligten aktiv einfordern. Hemmerich fasst das wie folgt zusammen: “Wir Führungskräfte müssen lernen, uns zugleich als Qualitätsbeauftragte zu sehen. Neben den Alltagsaufgaben.”
Genau das ist vielfach der Knackpunkt. Denn in vielen Organisationen war – anders als bei ad laborem – das Qualitätsmanagement in den vergangenen Jahrzehnten operativ sehr stark auf QM-Beauftragte verlagert worden. Nach der Revision liegt die Verantwortung nun aber viel offensichtlicher als früher bei der Führung. Wenn die Leitungsebene diese veränderten Anforderungen annimmt, dann ist das Projekt Rezertifizierung allerdings nach den ersten Erfahrungen sehr erkenntnisreich und für die Gesamtorganisation gewinnbringend.
Gute Norm – schlechte Norm?
Die ISO 9001 ist im Sinne von Total Quality Management mit der aktuellen Revision ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist gelungen, sie auf einen moderneren Stand zu bringen und durch die 360°-Betrachtung der Organisation die betriebliche Realität besser widerzuspiegeln. Jedoch beinhaltet sie im Verhältnis zur Version von 2008 deutlich weniger harte Forderungen. Für Organisationen ist es dadurch noch leichter geworden, die Zertifizierung zu erreichen, weil es für Auditoren schwieriger wird, Abweichungen zu formulieren.
Genau damit haben allerdings stark regulatorisch geprägte Branchen wie beispielsweise Medizintechnik, pharmazeutische Erzeugnisse, Automotive oder Luft- und Raumfahrt ein Problem: Es wird schwierig, auf Basis der ISO 9001:2015 harte Forderungen an sich selbst und die Zulieferer zu stellen. Branchenspezifische Ausprägungen sind deshalb dabei, sich zunehmend von der ISO 9001 lösen: So basiert die ISO 13485:2016 für Medizinprodukte nicht auf der neuen, sondern auf der alten ISO 9001. Und es ist keineswegs sicher, dass die für Oktober 2016 geplante Neuauflage der bisherigen ISO/TS 16949 für die Serien- und Ersatzteilproduktion in der Automobilindustrie auf der ISO 9001:2015 basieren wird – allein die Namensgebung spricht Bände: Die neue Norm wird IATF 16949:2016 heißen – nach dem “ISO” sucht man vergeblich.
Die Chancen nutzen und auf Nachhaltigkeit setzen
Wer von sich heraus motiviert an das Thema geht und die Chancen erkennt, die in der Norm liegen, legt mit der Zertifizierung die Grundlagen für ein effektives und effizientes Steuern mit Leistungskennzahlen und Zielen. Die Norm ist und bleibt das, was die einzelne Organisation daraus macht.
Der Autor
Wolfgang Rhein
Der Qualitätsmanagement-Experte und Geschäftsführer der Rhein S.Q.M. GmbH begleitet Organisationen bei der Vorbereitung auf Zertifizierungen nach ISO 9001:2015, IATF 16949:2016, EN 9100, ISO 27001, ISO/IEC 17025, ISO 22000, BRC uvm.
ISO 9001:2015 Zertifizierung als Chance statt als lästiges Übel
Die Industriepartner aus den Bereichen Automotive und Befestigungstechnik fordern vom Mannheimer Verpackungs- und Logistikdienstleisters ad laborem gGmbH höchste Qualitätsstandards, Flexibilität und Just-in-Time-Lieferungen. Aber nach der neuen ISO 9001:2015 galt es, im Rahmen einer 360°-Betrachtung nicht nur die Kunden, sondern alle sog. interessierten Parteien mit ihren teilweise konträren Ansprüchen zu beachten. Beide haben in der Zertifizierungsvorbereitung immer wieder mit den Herausforderungen gehadert, sind aber letzten Endes überzeugt, dass gerade im risikobasierten Denken und in der gezielten Nutzung der Prozesskennzahlen große Chancen liegen.
Dieser Fachbeitrag von Wolfgang Rhein erschien Ende Oktober 2016 in einer gekürzten Version in Ausgabe 4/2016 der Fachzeitschrift Quality Engineering.
Hier dürfen wir Ihnen mit freundlicher Genehmigung von Quality Engineering den Artikel als PDF-Download zur Verfügung stellen: “Herausforderung Umdenken” – QE Ausgabe 4/2016
Die ad laborem gGmbH
Volker Hemmerich
Geschäftsführer
www.adlaborem.de
Klaus Litwinschuh
Betriebsleiter
www.adlaborem.de
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