IATF 16949: Die gesamte Automotive-Lieferkette unter Zeitdruck
Die Komplexität der Produkte in der Automobilindustrie nimmt zu, Produktionsunterbrechungen kosten Millionen, die Gewährleistungs- sowie Garantiezeiträume werden länger und die gesetzlichen Auflagen und behördlichen Anforderungen weltweit strenger. Die Mitglieder der International Automotive Task Force (IATF) reagieren darauf mit der im Oktober 2016 veröffentlichten Norm IATF 16949:2016 – und einem knappen Umsetzungszeitraum bis 14.9.2018.
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Die Basisanforderung ist im Prinzip gleichgeblieben: Der OEM braucht fehlerfreie Lieferungen und erfolgreiche sowie pünktliche Neuanläufe. Im Zeitalter des hochautomatisierten Fahrens, in dem absehbar hauptsächlich Softwaremodule die Wertschöpfung ausmachen, ist das Prinzip “Vermeidung von Fehlern” noch schwerer zu erfüllen. Mit der Revision wird die Gesamtorganisation außerdem 360 Grad betrachtet – die ISO 9001:2015 lässt grüßen – und weitere Disziplinen rücken stärker in den Fokus als das in der Vergangenheit der Fall war. Der sogenannte multidisziplinäre Ansatz taucht in der Norm jetzt an allen Ecken und Enden auf und nimmt einzelne Bereiche wie beispielsweise den Einkauf, die Leitung oder die Produktionsplanung und -steuerung noch viel stärker in die Pflicht. Inhaltlich zielen die wichtigsten Änderungen auf Produktsicherheit und somit auf die Vermeidung von Produkthaftungsfällen.
IATF 16949:2016 ist Pflicht für alle Automobilzulieferer
“Wer die Automobilindustrie auch in Zukunft beliefern will, für den ist die Zertifizierung nach IATF 16949 alternativlos. So einfach ist das.”, konstatiert Wolfgang Rhein, der als erfahrener Impulsgeber, Berater, Trainer und Auditor mit seiner Organisationsberatung Rhein S.Q.M. GmbH Unternehmen auf die Zertifizierung vorbereitet. Er hält die aktuelle Revision für inhaltlich sehr gelungen, weil sie konsequent auf Qualität ausgerichtet ist und die Anforderungen sehr konkret formuliert. Und sie verfolgt das klare strategische Ziel, die hohen Anforderungen an die Qualität, Produktsicherheit und Gesetzeskonformität bis zum letzten Glied in der Lieferkette durchgängig sicherzustellen. Daher werden zertifizierte Organisationen nun in die Pflicht genommen, nachzuweisen, welche Wege sie gehen, die gesamte Lieferkette hin letztendlich zu einer Zertifizierung nach IATF 16949 zu entwickeln. Die Revision betrifft damit also nicht mehr nur die über 56.000 Organisationen, die heute schon nach dem Vorgänger, der ISO/TS 16949, zertifiziert sind, sondern Tier-1 bis Tier-N der Zulieferpyramide – bis hin zu den Rohmateriallieferanten. “Das geht weder von heute auf morgen noch bis zum 14.9.2018”, ist Rhein sicher und kritisiert damit die Zeitschiene. Bis die gesamte Lieferkette die Grundprinzipien verstanden und umgesetzt habe, könne es bis zu 15 Jahre dauern, ergänzt der QM-Berater und Auditor, der diesen Weg aber für absolut unumgänglich hält. Denn die IATF 16949 ist für die Automotive-Branche keine Norm, bei der es um das “Ob” geht.
Dokumentierte Prozesse und der multidisziplinäre Ansatz
Und es geht auch nicht wirklich um das “Wann”. Denn wer nach dem Stichtag für die Umsetzung, dem 14. September des kommenden Jahres, nicht seinen Zertifizierungsstatus verlieren möchte, muss sofort Vollgas geben. In Vorbereitung der Zertifizierungsaudits gibt es nämlich einiges zu tun. Wer die expliziten Forderungen nach weitgehenden dokumentierten Prozessen und den multidisziplinären Ansatz durchdenkt, der sich durch die gesamte Norm zieht, erkennt recht schnell: Der Aufwand für Qualitätsmanagement nimmt für alle Beteiligten intern wie extern signifikant zu.
So wird die Managementbewertung für Führungskräfte ausführlicher und noch stärker auf Leistungsindikatoren und die Kunden- sowie Marktzufriedenheit ausgerichtet. Die Chancen- und Risikenermittlung führt zu verbindlichen PDCA-Plänen, Notfallpläne müssen getestet werden, und Entwickler werden explizit darauf auditiert, mit welchen Methoden sie die Qualität für die in Fahrzeugen integrierte Software absichern. Der Kundendienst wird unter anderem aufgefordert, einen Gewährleistungsmanagement-Prozess festzulegen, in dessen Kontext auch Feld-Schadteilanalysen inklusive No-Trouble-Found Situationen geplant werden müssen. Von internen Prozessauditoren wird unter anderem sehr konkret die relevante technische Kompetenz verlangt, so dass sich in den Organisationen verstärkt Auditoren-Teams bilden müssen, da viele interne Auditoren nicht alle erforderlichen Nachweise erbringen können.
“Auf den Einkauf kommt mit die meiste Arbeit zu.”
Wesentlich stärker als bisher greift die IATF 16949 in die Einkaufsprozesse ein. Die Lieferanten von Produktteilen wurden schon früher sehr stark gesteuert, jetzt stehen aber ALLE Lieferanten im Fokus – angefangen von Unternehmen, die die Vormontage einzelner Fertigungsteile übernehmen über Kalibrierdienstleister bis hin zu Softwareentwicklungsdienstleistern und Rohstoffherstellern. Gerade die Qualitätssicherung bei Softwareprodukten warf in der Vergangenheit stets Schwierigkeiten auf. “Insbesondere bei immateriellen Produkten wie Software”, so Rhein, “beißen sich – zumindest auf den ersten Blick – Qualitätssicherungsstandards wie A-SPICE oder funktionale Sicherheit nach ISO 26262 mit den sogenannten agilen Entwicklungsmethoden, die in diesem Bereich derzeit in der Praxis oft eingesetzt werden – und auch werden müssen! Für die meisten Softwareentwicklungspartner sind derlei Standards tatsächlich neu.” Als größte Herausforderung im Bereich Einkauf sieht Rhein allerdings, dass sichergestellt werden muss, dass eingekaufte Leistungen die jeweiligen gesetzlichen und behördlichen Anforderungen des Ausfuhrlandes, des Einfuhrlandes und des Bestimmungslandes erfüllen. “Das benötigt eine entsprechende Systematik, und das ist eine Herausforderung, die ihresgleichen sucht. Es könnte ja zum Beispiel sein, dass das Ausfuhrland Thailand ist, das Einfuhrland Ungarn und als Bestimmungsländer die USA, China und Brasilien vorgesehen sind.”, beschreibt Rhein ein durchaus realistisches Szenario. Die Anforderungen im ersten Schritt zu ermitteln, sie an die Lieferanten weiterzugeben und das Ganze dann lückenlos zu dokumentieren, stellt für die meisten Einkäufer eine derzeit noch unlösbare Herausforderung dar. Dafür, sich nicht mehr alleine auf die Kundenangaben verlassen zu dürfen, gibt es noch kein System.
Der Hinweis der Norm, dass die Steuerung der Einhaltung aller Normforderungen explizit auch Setzlieferanten beinhaltet, ist dabei weit mehr als eine Randnotiz, und es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Punkt in der Praxis als realisierbar erweisen wird.
Prozessentwicklung: Nachweisführung analog zur Produktentwicklung
Auch im Bereich der Produktionsplanung und Produktionssteuerung kommt der multidisziplinäre Ansatz zum Tragen und man sieht auch daran, dass in der gesamten Norm noch größerer Wert darauf gelegt wird als in der Vergangenheit. Neu ist der Punkt “Dokumentierter Prozess der Prozessentwicklung”. Während Produktentwicklungsprozesse schon lange dokumentiert wurden und eine entsprechende Nachweisführung gewährleistet war, gab es in der Vergangenheit für Produktionsprozesse zwar durchaus einen Findungs-, aber häufig eben keinen strukturierten Prozess. Die meisten Automotive-Lieferanten werden sich, so Rheins Einschätzung, daher zunächst schwertun, ein Verfahren für die Prozessentwicklung zu beschreiben, nachweislich einzuhalten und Projekte analog zur Produktentwicklung zu dokumentieren.
Qualitätsmanagement-Experte Rhein erläutert darüber hinaus, dass künftig Rückverfolgbarkeitspläne entwickelt werden müssen: “Die Anforderungen an die Produktionssteuerung und an die Produktion selbst inklusive Einrichtvorgang, Produktionsfreigabe, Produkt- und Prozessüberwachung inklusive Prozessfähigkeit, Umgang mit n.i.O.-Produkten, nachzuarbeitenden und zu reparierenden Produkten nehmen deutlich zu. Die Rückverfolgbarkeit erhält einen ähnlichen Stellenwert wie bereits in anderen Branchen – wie beispielsweise der Lebensmittelindustrie.”
Richtig viel Zusatzarbeit dürfte laut Rhein auch der geforderte dokumentierte Prozess für das “error proofing” bedeuten.
Konsequenz Umorientierung?
Fest steht: Die Umsetzung der IATF 16949 wird für die einzelne Organisation teuer und die Lieferanten bleiben in jedem Fall auf diesen Kosten sitzen. Die Frage liegt also in der Luft, ob sich einige nicht lieber mit einem Plan B beschäftigen, also damit, auf andere Branchenzielgruppen zu setzen. “Die Umorientierung zum Beispiel Richtung Luft- und Raumfahrtindustrie wird für zahlreiche Lieferanten durchaus zu einer echten Alternative. Aber man sollte dabei unbedingt bedenken, dass die Volumina dort schlicht nicht so groß sind wie im Automobilsektor.”, warnt Rhein.
Schnell starten und Auditorenknappheit einkalkulieren
Der multidisziplinäre Ansatz macht es mehr erforderlich als früher, dass in der Zertifizierungsvorbereitung separate Workshops mit allen potenziellen Adressaten durchgeführt werden. “Der Vorbereitungsaufwand auf eine Rezertifizierung wird 0,75-mal so hoch wie für eine Erstzertifizierung.”, kalkuliert Rhein. Das allein ist mit Blick auf die verbleibende Frist bis zum 14.9.2018 noch nicht kritisch, sofern man schnell in die Umsetzung startet. Laut Prognose des QM-Beraters und Auditors werden aber in zahlreichen Fällen Hauptabweichungen nicht ausbleiben, so dass vielfach nach dem externen Audit erneut Zeit eingeplant werden muss, um diese rechtzeitig zu schließen. Nach dem 30.09.2017 dürfen keine 3rd-Party Audits mehr nach altem Standard durchgeführt werden. So wird das Zeitbudget noch enger. Bedenkt man dann noch, dass die Zertifizierungsgesellschaften vor der Veröffentlichung der neuen Norm ebenfalls keine Vorbereitungsmöglichkeiten hatten und IATF-16949-Auditoren Stand heute nur begrenzt verfügbar sind, wird die laut Rhein unvermeidliche Auditorenknappheit am Ende zu einem entscheidenden Faktor werden: Denn die zu befürchtende Audit- und Nachauditschwemme wird die Verfügbarkeitssituation noch verschärfen.
“Die IATF 16949 ist eine sehr, sehr gute Norm, inhaltlich 1A, total auf Qualität ausgerichtet. Nur: Der Umstellungszeitraum ist deutlich zu kurz, sowohl für die zertifizierten Organisationen als auch für die Zertifizierungsgesellschaften als auch für die Berater, die in dieser kurzen Zeit gar nicht ausreichend Kapazitäten zur Verfügung stellen können.”, bringt es Wolfgang Rhein dann auch auf den Punkt.
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Hintergrundinformationen zur Rhein S.Q.M. GmbH
Die Organisationsberatung Rhein S.Q.M. wurde 2004 in Ludwigshafen gegründet und 2013 in eine GmbH umgewandelt. Der Schwerpunkt liegt bis heute im Bereich des Qualitätsmanagements für die Automobilindustrie sowie die Luft- und Raumfahrtbranche, auch wenn das Team rund um Gründer und Geschäftsführer Wolfgang Rhein zwischenzeitlich international in über 40 Branchen mit einer Abdeckung von mehr als 50 Regelwerken und Standards tätig ist. Die Leistungen in der Qualitätsmanagement-Beratung sowie im integrierten Management erstrecken sich dabei auch auf angrenzende Bereiche wie Umweltmanagement, Energiemanagement, Arbeitsschutzmanagement, Hygienemanagement sowie die Integration branchenspezifischer Standards. Neben der Beratung und operativen Unterstützung beim Aufbau und der Zertifizierung von Managementsystemen werden über die eigene Qualitätsakademie Seminare, Trainings und Workshops angeboten. Die Rhein S.Q.M. GmbH begleitet Organisationen außerdem dabei, die Einhaltung von Kunden- und Branchenforderungen in der gesamten Lieferkette sicherzustellen. Mehr Informationen zum Unternehmen sowie seinen Dienstleistungen im Internet unter www.qm-projects.de.
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Wolfgang Rhein
Rhein S.Q.M. GmbH, Ebereschenweg 2a, 67067 Ludwigshafen
Telefon: +49 9373 2057272, E-Mail: presse@qm-projects.de
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